„Wirtschaftsjournalismus“ gilt oft als trocken und schwer verständlich. Auch unter den Journalistinnen und Journalisten selbst hat das Ressort den Ruf der „harten Nuss“. Zu Unrecht, wie ich finde. Gegenüber dem Blog „medienpraxis“ habe ich erklärt, was mir an dem Thema „Wirtschaft“ so gefällt.

medienpraxis: Viele Journalisten haben Berührungsängste mit dem Thema Wirtschaft. Ist es wirklich so kompliziert?

Eva Schmidt: Vor dem Thema Wirtschaft schrecken in der Tat viele Journalisten zurück. Zu Unrecht, wie ich finde. Um Wirtschaftsnachrichten zu verstehen, braucht man vor allem politisches Verständnis. Um sie zu produzieren, zusätzlich auch die Kenntnis einiger Mechanismen. Da ist natürlich ein Wirtschaftsstudium hilfreich, keine Frage, aber nicht Bedingung nach meiner Erfahrung. Wichtig ist es, Unternehmen zu kennen, was sie produzieren und wie sie international aufgestellt sind. Weiterhin sollte man im Bilde sein über die bekanntesten Forscher und ihre Institute sowie über die Haltungen, die sie vertreten. Und einen Überblick zu haben über Länder und ihre Rolle in der Globalisierung, das ist auch ganz wesentlich.

medienpraxis: Du sprichst von Mechanismen. Welche Mechanismen sollte man denn verstehen?

Eva Schmidt: Nehmen wir das Beispiel Unternehmensnachrichten. Börsennotierte Unternehmen haben eine Pflicht zur Veröffentlichung ihrer Zahlen. Wenn die Zahlen herauskommen, sollte man – sofern das möglich ist – nicht sofort die Nachricht dazu „heraushauen“. Denn Gewinne und Verluste sind immer relativ und erfordern eine Einordnung. Besser ist es, die Besprechungen der Analysten abzuwarten. Signifikant ist vor allem der operative Gewinn, also die Zahlen aus dem operativen Geschäft, dem Geschäft der Kernkompetenz. Das ist beispielsweise bei adidas der Verkauf von Sportbekleidung. Man sollte genau hinzusehen, woher Gewinne und Verluste rühren. Die Frage ist auch, was ist im Vorfeld erwartet worden? Deshalb genau auf die Reaktion der Börse achten. Es gibt Unternehmen, die legen ein deutliches Plus vor, gleichzeitig sinkt aber der Börsenkurs. Weil zum Beispiel der Gewinn nur daher rührt, dass ein Teil des Unternehmens verkauft wurde, die Produkte aber vielleicht Ladenhüter sind.

Medienpraxis: Gibt es weitere Mechanismen aus der Welt der Wirtschaft, die man als Journalist unbedingt kennen sollte?

Eva Schmidt: Elementar ist: Wirtschaftsinteressen erkennen und die Denkschulen dahinter beachten. Solche „Glaubensrichtungen“ sind etwa: Mehr Staat oder weniger? Investieren oder sparen? Wenn ich ein Interview führe, schaue ich mir im Vorfeld an, für wen diese Experten arbeiten, für wen sie Studien erstellen. Daraus lässt sich in der Regel die „Glaubensrichtung“ ganz gut ablesen. Anders als es viele behaupten, halte ich die Volkswirtschaft für eine Sozialwissenschaft, weil doch alles eine Frage der Ansicht ist.

Als Journalist sollte man zudem auch beispielsweise die Arbeit der Notenbanken verstehen. In Europa steht die Inflation im Mittelpunkt der Steuerungsfunktion, in den USA die Stimulierung des Arbeitsmarktes. Und dann noch: Die Wechselwirkung zwischen Zinspolitik und Aktienmarkt, der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Währungskurse und der Exporte.

Ich finde es zudem sehr relevant, in die Geschichte zu schauen, Phasen zu verstehen: Welche historischen Einschnitte haben etwa die große Finanzkrise oder der Ölpreisschock markiert? Oder der Liberalismus unter Reagan und Thatcher?

medienpraxis: Was liest Du, um auf dem neusten Stand zu bleiben?

Eva Schmidt: Die Allzweckwaffen unter den Ratgebern und Lehrbüchern kenne ich leider nicht. Ich persönlich lese viel SZ und Zeit. Handelsblatt, FAZ und Welt vor allem online oder über Twitter.

medienpraxis: Was gefällt Dir am Wirtschaftsjournalismus?

Eva Schmidt: Mir gefällt die hohe Relevanz des gesamten Themas. Wirtschaftsnachrichten sind nie belanglos. Denn sie betreffen die Lebensverhältnisse vieler Menschen. Wirtschaft ist immer international, auch das finde ich sehr gut, Wirtschaft betrifft jeden Bereich des Lebens, das Theater genauso wie den Fußball, arme Leute genauso wie reiche. Jeder und alles sind Teilnehmer von Wirtschaftskreisläufen.

medienpraxis: Wie hast Du Dich mit Wirtschaftsthemen vertraut gemacht?

Eva Schmidt: Ich bin eher durch Zufall zum Wirtschaftsjournalismus gekommen, das liegt nun schon fast 20 Jahre zurück. Am Anfang habe ich mich mehr mit Finanzmarktthemen und Unternehmen beschäftigt, heute eher mit Wirtschaftspolitik, Globalisierung und Nachhaltigkeit.

medienpraxis: Wie siehst Du heute den Wirtschaftsjournalismus in Deutschland?

Eva Schmidt: Wirtschaftsthemen haben sich „entBWLisiert“, wie ich es nenne. Das heißt, sie gewinnen heute stärker ein gesellschaftspolitisches Profil. Früher zielte Wirtschaftsberichterstattung vor allem auf Investoren oder Unternehmenslenker ab, auf die sogenannten „Entscheider“, es ging um Gewinne und Verluste. Heute betrachtet man viel stärker das verantwortliche Handeln von Unternehmen. Mir persönlich gefällt das sehr gut.

medienpraxis: Wie gehst Du ein Thema an?

Eva Schmidt: Mir hilft es immer, wenn ich mir ein Thema in seiner Dreidimensionalität vorstelle, egal, ob es sich um ein Thema aus dem Ressort Wirtschaft oder aus einem anderen Ressort handelt. Unter „Dreidimensionalität“verstehe ich, in die Breite, in die Tiefe und in die Höhe zu recherchieren. Fangen wir mit der Breite an: Das heißt für mich zu analysieren, wo mein Thema verankert ist. Beispielsweise bei einem Unternehmen: Wie stehen die anderen Unternehmen der Branche da, was machen die Konkurrenten? Oder bei einem Land: Wie geht es den Anrainern? In die Tiefe zu recherchieren, heißt für mich: Wie war es vorher? Und die Höhe: Welche Prognosen gibt es? Wie sieht die Zukunft aus?

medienpraxis: Was gibst Du Kolleginnen und Kollegen mit auf den Weg, die sich für Wirtschaftsjournalismus interessieren?

Eva Schmidt: Sich kein X für ein U vormachen lassen. Sich nicht einschüchtern lassen von Zahlen. Sich trauen, einfache Fragen zu stellen, das sind oft die besten. Das setzt allerdings voraus, antiautoritär zu denken. Wenn man sich mit Wirtschaftsthemen beschäftigt, trifft man viele Menschen, die wichtige Funktionen bekleiden oder denken, dass sie das tun. Davon sollte man sich nicht auf falsche Weise beeindrucken lassen. Bedeutsam finde ich auch die Erkenntnis, dass alles vorübergeht: Um die Jahrtausendwende herum war es der Internet-Hype und der Neue Markt, die new economy und dann die Globalisierung. Immer war die Ansage: Jetzt brechen neue Zeiten an, ab sofort ist nichts mehr so wie früher. Stimmte aber am Ende doch nicht. Ich persönlich setze auch ein Fragezeichen hinter die Prognosen, die manche im Hinblick auf die Digitalisierung vornehmen. Auch hier heißt es für mich, den übertriebenen Hype zu erkennen. Das meine ich mit politischem Verständnis, wie ich es eingangs erklärt habe. Ein gutes Gespür für den gesunden Menschenverstand kann hilfreicher sein als Zahlenhörigkeit. Denn am Ende ist auch in der Wirtschaft alles Ideologie. Selbst in Feldern, die in die Naturwissenschaft hineinreichen. Frage Mal Professoren der landwirtschaftlichen Fakultäten in Deutschland, was die Menschen auf der Erde satt macht? Der eine setzt auf Ökolandbau, der andere auf Gentechnik und precision farming. Jeder hat eine andere Idee und jeder beruft sich auf unmissverständliche wissenschaftliche Studien.

Das Interview führte Heiko Kunzmann, Leipzig.

Das Interview im Original auf medienpraxis.blog