„Tyll“ von Daniel Kehlmann ist kein Harry Potter für Erwachsene. Es ist ein Buch mit sehr ernsthaftem und tragischem Stoff. Für mich besteht sein Wert vor allem in der lebendigen Darstellung des 17. Jahrhundert. Der reale Lebensalltag der Menschen kommt dem Leser sehr nahe. Daniel Kehlmann versetzt den Gaukler Till Eulenspiegel in die Zeit des 30jährigen Krieges. Tyll, wie er in dem Roman heißt, wird als Müllersohn geboren, flieht noch als Kind vor der Inquisition, reist durch die Welt, gerät in die Wirren des 30jährigen Krieges und wird am Ende Hofnarr des sogenannten „Winterkönigs“, Friedrich V. Kurfürst von der Pfalz.  Alle Buchbesprechungen, die ich bisher gelesen habe, drehen sich um die Frage, warum der Autor die mittelalterliche Figur in das 17. Jahrhundert versetzt. Vielleicht brauchte Daniel Kehlmann diesen Gaukler, diese Figur außerhalb der gesellschaftlichen Regeln, um den Stoff seines Romans zusammenzubinden. Tyll gerät als Gaukler mit allen Ständen in Berührung. Und zeigt damit die Katastrophe des 30jährigen Krieges in allen Auswirkungen auf alle Menschen aus allen gesellschaftlichen Ständen, auf dem Dorfe wie bei Hofe.

Beeindruckt hat mich an diesem Roman nicht so sehr die Figur des „Tyll“, sondern die schon fast reportagehaften Züge in der Darstellung von Alltäglichkeit. Damit meine ich nicht nur die Tragödie des Krieges, sondern vor allem die begrenzenden Lebensumstände dieser Epoche. Als Tyll auf die Welt kommt, am Vorabend des 30jährigen Krieges, leben die Menschen in einem engen Netz gesellschaftlicher Zwänge. Der Mensch darf sich nur bewegen innerhalb unsichtbarer Fäden, die das ganze Leben umspannen und begrenzen. Das gilt für das einfache Leben des Müllersohns Tyll genauso wie für das höfische Zeremoniell, von dem später in dem Buch die Rede ist.

Nur die Gaukler und das fahrende Volk dürfen so leben, wie es ihnen gefällt, dürfen den Ort verlassen, in dem sie geboren wurden, dürfen Verbindungen mit Menschen eingehen, die sie sich selbst wünschen und die nicht vorgegeben werden. Allerdings mit dem hohen Preis, dass sie „Freiwild“ sind. Denn wer sich an ihnen vergeht, bleibt unbestraft. Tyll gerät unfreiwillig zum fahrenden Volk, denn sein Vater fällt als „Hexer“ der Inquisition zum Opfer, Tyll muss fliehen.  Aber im Laufe der Handlung entscheidet sich Tyll immer wieder für die Freiheit und gegen den Zwang, das ein Leben in Ordnung und Sicherheit mit sich bringen würde.

Zu Tylls Lebenszeit im 17. Jahrhundert sind die Menschen noch unfähig, logische Erklärungen für Krankheit und Tod zu finden. Wetterphänomene sehen sie als Zeichen überirdischer Kräfte. Aberglauben regiert den Alltag. Und der strafende Gott steht über allem. So ist eine der ersten Szenen des Buches hochdramatisch, als Tyll noch als Kind alleine eine Nacht im Wald verbringen muss. Auch aus heutiger Sicht sicherlich kein angenehmer Gedanke. Aber in einer Zeit, als man glaubte, dass im Wald nachts die Geister regieren, steigert sich die Spannung fast ins Unerträgliche. Daniel Kehlmann hat den Alltag dieser Zeit gut recherchiert. Das Essen bestand maßgeblich aus Buchweizengrütze in leidlichen Mengen. Als Tylls Vater seine Henkersmahlzeit bekommt, kann er sich zum ersten Mal im Leben wirklich satt essen. Eine enge Bindung zwischen Eltern und Kindern gab es damals noch nicht. Denn kaum hätte man sie ins Herz geschlossen, wie es Tylls Vater beschreibt, stürben sie einem ja doch unter den Händen weg. Die ständige Angst vor dem Tod definierte nicht nur den Alltag, sondern auch den Grad menschlicher Nähe.

Ich glaube, Daniel Kehlmann hat ein Buch über die Freiheit geschrieben. Mit der Figur des Gauklers Tyll zeigt er, dass der Mensch immer die Wahl hat zwischen Zwang oder Selbstbestimmung. Zu jeder Zeit und in jedem gesellschaftlichen Stand. Meine persönliche Lesart ist allerdings eine etwas andere. Erst die Aufklärung gibt dem Menschen Würde und Selbstbestimmung. Heute wissen wir, dass Krankheiten keine Strafen Gottes sind und dass auch nachts keine bösen Geister unterwegs sind. Es gibt für alles eine Erklärung. Darin besteht ein großes Stück Freiheit.

https://www.rowohlt.de/hardcover/daniel-kehlmann-tyll.html

http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=69277

http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=69416