„Baba Dunjas letzte Liebe“ ist nicht neu, aber großartig. Der Roman von Alina Bronsky ist 2017 bei Kiepenheuer & Witsch als Taschenbuch erschienen. Besser kann man 8 Euro kaum anlegen.

Baba Dunja, die eigentlich Evdokija Anatoljewna heißt, kehrt in ihren verlassenen Heimatort Tschernowo zurück, zweifellos eine Anspielung an das verstrahlte Tschernobyl. Der Ort gilt nach einem Reaktorunglück als unbewohnbar. Kein Strom, kein Telefon, keine Anbindung an Bus oder Bahn. Den nächsten Ort zu erreichen, in dem es Post oder Lebensmittel gibt, setzt stundenlange Fußmärsche voraus. Doch der Einsiedlerin folgen nach und nach eine ganze Reihe weiterer Menschen, die sich in dem verstrahlten Dorf nur eines wünschen: In Ruhe gelassen zu werden. Das gelingt ihnen zunächst sehr gut, denn außer ein paar Forschern in Strahlenschutzanzügen sucht niemand ihre Gemeinschaft auf. Das Dorf ist eine Idylle, schon alleine, weil sich die Natur dort ungestört entfalten kann. Alina Bronsky gelingt es meisterhaft, diese Idylle mit der stets vorhandenen Bedrohung zu kontrastieren. Scheinbar beiläufig erwähnt sie das Kätzchen ohne Augen, die Riesen-Zucchini in Nachbars Garten oder den gespenstischen Gesang der Vögel.

Baba Dunja war ihr Leben lang Krankenschwester und mit einem unzuverlässigen Mann verheiratet. Wer Russland kennt, für den ist Baba Dunja eine sehr lebendige Frau. Ein altes Mütterchen mit wenig Rente, die hart geschuftet, den Suff ihres Mannes ertragen und alleine zwei Kinder großgezogen hat. In der Reaktorzone pflegt sie liebevoll ihr kleines Haus, ihren Garten und aus den Birken zapft sie Saft, den sie für ihr hohes Lebensalter verantwortlich macht. Baba Dunjas Kinder, Irina und Alexej, sind längst erwachsen. Irina arbeitet als Ärztin in Deutschland und hat Mann und Tochter. Die Briefe, die Baba Dunja mit Tochter und Enkelin austauscht, werden zu einem roten Faden der Handlung. Irina leidet unter der Trennung und bittet die Mutter immer wieder, Tschwernowo zu verlassen. Nicht nur, weil Besuche in dem verstrahlten Ort für sie unmöglich sind, sondern auch, weil die Mutter nach Jahren in der Todeszone so viel Radioaktivität aufgenommen hat, dass ihr Körper selbst Strahlung nach außen abgibt. Die Strahlung also, so scheint es vordergründig, trennt Baba Dunja von Tochter und Enkelin, die in Deutschland heranwächst, ohne dass die Großmutter sie jemals in die Arme schließen kann. Auch Baba Dunja schreibt schmachtende Briefe an die Enkelin, während sie in ihren Gedanken ein blondes zartes kleines Mädchen vor sich sieht.

Von der schrulligen Gemeinschaft in Tschernowo wird Baba Dunja als Chefin respektiert. Und doch bleibt jeder dort für sich. Jörg Magenau schreibt in der SZ: „Mehr als ein skurriles Figurenkabinett bringt Alina Bronsky nicht zustande.“ Doch ich habe ein anderes Buch gelesen als Jörg Magenau. Denn im Laufe der Lektüre wird klar, dass die Stahlung nicht das Trennende zwischen den Menschen ist. Die Bewohner, allen voran Baba Dunja, leben in der Todeszone, weil allein dort niemand sie in die Vergangenheit zurückholen kann. Die äußere Bedrohung ist Voraussetzung für ihren inneren Frieden.

Die Idylle der verstrahlten Gemeinschaft wird zwischendurch gestört, als ein Fremder mit einem Kind in den Ort kommt. Um das Kind vor der Strahlung zu schützen, muss der Störenfried sterben.  Baba Dunja erklärt sich für schuldig und landet im Gefängnis. Sie wird begnadigt, und Tochter Irina regelt Baba Dunjas Ausreise nach Deutschland. Dieser Exkurs mit dem Mord an dem Fremden wirkt in der Gesamthandlung als Fremdkörper. Das ist für die mich die einzige Schwäche in dem Buch.  Es hätte diesen Exkurs auch nicht gebraucht, um die überraschende Wende einzuläuten. Der Besuch Irinas deckt offen, dass die Tochter keinesfalls das idyllische Leben in Deutschland lebt, wie es sich die Mutter über viele Jahre hinweg vorgestellt hat. Im Gegenteil: Die idealisierte Enkelin lebt auf der Straße und nimmt Drogen, von ihrem Mann ist Irina längst geschieden. Der Besuch Irinas bei der Mutter macht zudem das komplizierte Verhältnis zwischen den beiden Frauen deutlich. Die enge Bindung zwischen Mutter und Tochter und Großmutter und Enkelin: Illusion! Als Baba Dunja nach ihrer Entlassung nach Deutschland kommen soll, um bei Irina ihren Lebensabend zu verbringen, fährt sie überraschend nicht zum Flughafen, sondern zurück nach Tschwernowo. Zurück in die verstrahlte Idylle, die sie sicher vor der Auseinandersetzung mit ihrem wirklichen Leben schützt. Das Wechselspiel aus innerer und äußerer Bedrohung: Der Roman ist eine wunderbare Darstellung vom Umgang mit menschlichen Illusionen.

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