Am Internationalen Frauentag lohnt es sich, auf das Werk einer sehr mutigen Frau in Russland zu schauen. Auch der dritte Roman von Gusel Jachina widmet sich den Verbrechen der frühen Sowjetunion. Der Blick in die Geschichte ist eine Chiffre für ihre Interpretation der Gegenwart.
„Er fragte sich nicht, weshalb die Zahl der Betten für die in Samarkand ankommenden Kinder um ein Drittel geringer war als die Zahl derer, die in Kasan abfuhren. Er nickte nur zum Zeichen seiner Zustimmung. Dann gingen sie zu den Kindern.“500 Kinder, aber nur 350 Betten. Darin liegt die ganze Dramatik von „Wo vielleicht das Leben wartet“, erschienen bei Aufbau, erneut in einer wunderbaren Übersetzung aus dem Russischen von Helmut Ettinger.
Gusel Jachina ist eine russisch-tatarische Autorin, die in ihrer Heimat ein Literaturstar ist – und das ist keinesfalls wohlwollende Übertreibung. Russland ist ein Land, in dem Schriftstellerinnen und Schriftsteller tatsächlich zu Stars werden können. Russen lieben beispielsweise den Wettbewerb „Totales Diktat“, in dem die ganze Nation zum Diktat antritt. Gusel hat es vor einigen Jahren geschafft, dass ein Teil ihrer Romane zum Inhalt dieses Diktatwettbewerbs wurden: Ein literarischer Ritterschlag! Auch in Deutschland hat sie sich einen Namen gemacht mit ihren ersten beiden Romanen, „Suleika öffnet die Augen“ und „Wolgakinder“. Auf der Frankfurter Buchmesse 2019 hatte ich die Chance, ein Interview mit ihr zu führen, damals war gerade „Wolgakinder“ auf Deutsch erschienen.
Was ihre Literatur für mich bemerkenswert macht, das sind die intensiven Detailbeschreibungen des alltäglichen Lebens: des Essens, der Wohnung, der Kleidung, der Werkzeuge… Als würde eine Kamera in Nahaufnahme langsam über alles hinweggleiten.
Gusel hat an der Filmhochschule studiert, was den cineastischen Charakter ihres Schreibstils sicherlich erklärt. Aber auch aus politischer Sicht ist ihr Werk ungewöhnlich, denn alle Romane spielen in den frühen 1920er Jahren in der Sowjetunion: Oktoberrevolution, Bürgerkrieg, Hunger, Verfolgung. Es ist als Autorin ausgesprochen mutig, sich aktuell in Russland einem solchen Thema zu widmen, schließlich wird die Sowjetunion verherrlicht und die schweren Verbrechen der Stalinzeit relativiert. Und Gusel Jachina beschönigt nichts, im Gegenteil. Über die Motivation der Schriftstellerin schreibe ich später noch ausführlicher.
Zunächst zurück zur Frage aller Fragen: Warum gibt es für 500 Kinder nur 350 Betten? Weil man in den Irren der 1920er Jahre in der Sowjetunion kaum davon ausgehen konnte, dass unterernährte Waisenkinder eine 3000 km lange Zugfahrt überleben. Ihr Tod war also einkalkuliert. Aber der Zugchef Dejew, dem die 500 Kinder anvertraut sind, kämpft mit dem Mut der Verzweiflung um jedes einzelne Kind. Der Roman zeichnet eine Irrfahrt durch ein Land nach, in dem es für Kinder keinen Platz gibt. Aber Dejew ist fest entschlossen, jedem Kind seinen Platz zu geben. In unserem Email-Austausch antwortet mir Gusel dazu, dass der Zug im Laufe der Geschichte eine Art von „Arche Noah“ werde – „diese Arche fährt die armen Kinder aus dem hungrigen Kasan ins satte Samarkand, also aus dem Tode ins Leben.“ Wir erfahren wenig über den Helden, der einfach nur Dejew heißt. Rotarmist ist er gewesen. Und retten will er nicht nur die Kinder, sondern auch sich selbst bzw. doch zumindest seinen Seelenfrieden. Während der langen Fahrt kommen Erinnerungen hoch: Genosse Dejew war abkommandiert, einen Waggon zu bewachen und gegen Konterrevolutionäre zu verteidigen. Dejew erfüllt die Aufgabe mit höchstem Pflichtbewusstsein. Was es aber in dem Waggon tatsächlich zu bewachen gibt, wagt er nicht zu fragen. Nachts hört er dann Geräusche: Ein Überfall auf den Waggon? Dejew zögert nicht lange im Kampf gegen die Feinde des Volkes. Er schießt in die Dunkelheit. Und tötet dabei obdachlose Kinder, wie sich wenig später herausstellt, die in den Waggon gekrochen waren, um einmal den Geschmack von Schokolade auf der Zunge zu spüren. Denn in dem geheimnisvollen Waggon war nichts anderes als Schokolade. So wertvoll wie Gold in einem von Hunger und Bürgerkrieg geschütteltem Land.
Was wiegt das einzelne Menschenleben gegen die Masse? Dejew weigert sich, diese Frage pragmatisch zu entscheiden, er bleibt bis zum Ende der Reise ein Idealist. Die strenge und regelkonforme Erzieherin Belaja ist ihm zur Betreuung der Kinder zur Seite gestellt und wird zu seiner Widersacherin. Der Kampf Dejews um das Leben der Kinder wirkt bisweilen konstruiert und stellenweise etwas zu heroisch. Trotzdem bleibt es das große Verdienst von Gusel Jachina, auch in diesem Roman wieder den Fokus auf eines der dunkelsten Kapitel der sowjetischen Geschichte gelegt zu haben. Eine Zeit, in der Eltern aus Hunger ihre Kinder alleine in Dörfern zurücklassen mussten oder sie wilden Tieren zum Fraß überließen. Auch in dieser Hinsicht spart Gusel Jachina nicht an detailreichem Realismus.
Ich habe die Autorin gefragt, warum sie in ihren Romanen immer wieder in die Zeit der Anfänge der Sowjetunion zurückgeht. Sie hat mir folgendes geantwortet – übrigens auf Deutsch, da sie in den 1990er Jahren eine Zeitlang in Bonn studiert hat: „Die ersten Jahrzehnte der sowjetischen Ära waren die wichtigste Zeit für das moderne Russland — der Anfang aller Anfänge. Da haben sich alle Knoten gebunden, die wir bis heute versuchen, zu entwirren. Da wurden die Grundlagen für den Staat gelegt, in dem wir bis heute immer noch leben — nicht formell, aber im wesentlichen, denn die sowjetische Geschichte ist mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 nicht zu Ende. Wir leben immer noch in der sowjetischen Geschichte, in ihrer letzten Phase (das möchte ich hoffen). Das Wesen des sowjetischen Staates liegt in seinem Verhältnis zum Menschen. Der kleine, rechtlose, sprachlose Mensch versus dem allmächtigen riesigen Staat — diese Konstellation ist grundlegend für das Verstehen der Sowjetunion und des gegenwärtigen Russland. Diesem Thema sind eigentlich meine drei Romane gewidmet. Der historische Roman ist für mich ein Werkzeug für die Erfassung der russischen Gegenwart.“ Nachfrage: Welche Parallelen siehst Du zwischen den Anfängen der Sowjetunion und der heutigen Zeit? Gusel antwortet dazu, dass sich „ganz leicht“ historische Parallelen ziehen ließen – „ob es um Wortfreiheit oder um die Repressionen geht oder um den Kalten Krieg u.s.w. All das sind aber die äußeren Merkmale. Mich interessieren mehr die inneren, psychologischen Momente. Die versuche ich, in meinen Romanen zu erfassen. Warum beugt sich der Mensch klaglos der Staatsmaschinerie? Was geht in denen vor, deren Bürgerpflicht und Menschenpflicht in Konflikt geraten? Kann man als Werkzeug des totalitären Systems auch ein Mensch bleiben? Warum ist das Phänomen Sowjetunion so langlebig? Diese Fragen waren für mich eine Motivation, den Roman `Wo vielleicht das Leben wartet` zu schreiben.“
Und wer sich jetzt fragt, wie man den Namen eigentlich ausspricht, dem kann geholfen werden: Ganz einfach wie man ihn schreibt. Gusel mit der Betonung auf der zweiten Silbe, Jachina mit Betonung auf der ersten.
Gusel hat zu Beginn des Kriegs gegen die Ukraine in deutschsprachigen Medien sehr offen Stellung bezogen:
Ich freue mich auf ihren nächsten Roman!