Ausgerechnet ein Buch über Afghanistan hat plötzlich mit Blick auf Europa eine traurige Aktualität. Was wirklich fehle, auch in Deutschland, sei die Erziehung zum Frieden. Die Fähigkeit, die Welt auch einmal aus der Perspektive der anderen Seite zu sehen.

Der erste Applaus nach 3 Sekunden: „Wir brauchen ein Fridays for future für den Frieden, weltweit“, fordert Michael Lüders bei seiner Lesung aus seinem neuen Buch „Hybris am Hindukusch“, erschienen im C H Beck Verlag. Am Rande der Pop-Up-Buchmesse in Leipzig durfte ich das Gespräch in der Stadtbibliothek von Leipzig moderieren. Michael Lüders ist Publizist, Autor und als Nahostkenner Nachfolger von Peter Scholl-Latour als Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft. Es ist nicht sein erstes Buch über den Nahen Osten und die Schäden, die „westliche Politik“ in dieser Region angerichtet hat.

Der Perspektivwechsel, den Michael Lüders mit Blick auf Afghanistan vorschlägt, lautet so: Hören wir auf, uns Märchen über den Aufbau von Mädchenschulen oder Krankenhäusern erzählen zu lassen. Weder die US-Amerikaner noch die Bundeswehr, weder die NATO noch die ISAF-Truppen waren in Afghanistan in humanitärer Mission. Von dem Afghanistan-Engagement der Amerikaner in Höhe von 2 Billionen US-Dollar flossen nur rund 1 Prozent in nachhaltige zivile Projekte. Diese Zahlen hat Michael Lüders den Afghanistan Papers entnommen. Seine Schlussfolgerung an diesem Abend: „Der Krieg in Afghanistan war in erster Linie ein Verbrechen an der einheimischen Bevölkerung.“ Und immer seien es nur Journalisten und Journalistinnen gewesen, die die Verbrechen aufgedeckt hätten – und nicht etwa die Behörden. Die einzige Nation, die bislang damit begonnen habe, ihre Kriegsverbrechen in Afghanistan aufzuarbeiten, sei Australien.

Michael Lüders erinnert an den Luftangriff von Kunduz: Bei dem von Oberst Klein angeordneten Bombardement eines Tanklasters starben 2009 nach offiziellen Angaben 91 afghanische Zivilisten. Der Luftangriff von Kunduz löste weltweit Entsetzen aus. Die amerikanischen Piloten, die die Flugzeuge steuerten, sollen mehrfach vorgeschlagen haben, zunächst Erkundungsflüge auszuführen, um sicherzustellen, keine Unschuldigen zu treffen. Oberst Klein hingegen sei ins volle Risiko gegangen und habe trotz der Bedenken das Bombardement angeordnet. Bis heute habe er sich für den Tod vieler Zivilisten vor keinem Militär- und Zivilgericht verantworten müssen und weder persönliches Bedauern noch Reue geäußert. Er wurde 2013 sogar zum Brigadegeneral befördert. Gerade wir Deutschen, die so überaus geschichtsbewusst seien, kritisiert Michael Lüders, hätten allen Anlass dazu, uns nicht zuletzt mit diesem verdrängten Massaker in Afghanistan zu befassen.

Eine provokative Frage des Autors an sein Publikum: Wenn die US-Amerikaner nach 9/11 tatsächlich die Terrorzellen bekämpfen wollten, warum haben sie dann eigentlich nicht Hamburg oder Saudi Arabien bombardiert? Denn von dort kamen schließlich die Attentäter. Und dort wurden ihre Tat geplant. Die offiziellen Gründe wie „Enduring Freedom“ seien ein Feigenblatt gewesen. Für Lüders war Afghanistan nur der erste Schritt, die US-Vorherrschaft in Nahost zu sichern. 2003 folgte mit dem Irak-Krieg der zweite Schritt. Zudem erwies sich insbesondere Afghanistan als Experimentierfeld für eine neue Waffentechnik, insbesondere für Drohnen. Dieser Krieg habe zwischen 2001 und 2021 mehr als 900.000 Menschenleben gefordert, die meisten im Irak und in Afghanistan und mehr als 8 Billionen US-Dollar gekostet. Die Besatzungsmächte wären mit einer verächtlichen Ignoranz gegenüber der Kultur und den Lebensverhältnissen der Menschen in Afghanistan vorgegangen. Zu den vielen Fehlern habe auch der Irrglaube gehört, eine von außen installierte Marionettenregierung hätte in einem solchen Land dauernd Bestand.

 

Die größte Herausforderung der Taliban werde auf längere Sicht die desaströse Wirtschaftslage sein. Vieles spreche dafür, dass sich Afghanistan unter den Taliban geopolitisch und wirtschaftlich in Richtung China und Russland orientiert, meint Lüders. Für die grauenhafter Bilder, die uns im Sommer vom Flughafen in Kabul erreichten, seien in erster Linie die Amerikaner verantwortlich. Wenn sie nicht zuvor den Flughafen für zivilen Verkehr geschlossen hätten, wäre es nicht zu diesen Verzweiflungstaten gekommen. Indien beispielweise hätte den Abzug seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus Afghanistan von  langer Hand vorbereitet. „Wenn man die Machtübernahme der Taliban nicht im Vorfeld erkennen konnte, was sagt uns das über die Fähigkeiten des Militärbündnisses? Und was bedeutet eine solche gravierende Fehler Einschätzung für den Umgang der NATO mit Russland und China?“ Im seinem Buch „Hybris am Hindukusch“ schreibt Michael Lüders: „Guerilleros in Sandalen haben die Weltmacht und ihre Juniorpartner besiegt. (….) In Wirklichkeit war der Siegeszug der Taliban alles andere als eine Überraschung. Der Westen ist in Afghanistan gescheitert wie vor ihm das britische Empire und die Sowjetunion.“

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