Der Buchhändler meines Vertrauens empfahl „Das kalte Blut“ als guten Familienroman. Gelesen habe ich einen wilden Agententhriller. Gefallen hat mir der Roman trotzdem. Aus einem Grund: Chris Kraus traut sich, Nazi-Verbrechen aus Perspektive eines SS-Manns zu erzählen. Und dabei Humor zuzulassen.  Der Roman ist ein Ziegelstein von 1300 Seiten. Es ist die Geschichte zweier Brüder aus Riga, Baltendeutsche mit adeligen Wurzeln. Als Leser erleben wir zunächst die Wirren der Russischen Revolution. Und als Klassenfeinde der Bolschewiki trifft es die Familie besonders schwer. Dann der Aufstieg der völkischen Bewegung in Lettland. Zunächst aus reiner Perspektivlosigkeit schließen sich die Brüder der Bewegung an. Denn als Baltendeutsche haben sie es unter sowjetischer Herrschaft schwer. Aber nach und nach fängt vor allem der ältere der beiden Brüder, Hubert („Hub“) Feuer für den Nationalsozialismus. Konstantin („Koja“), der jüngere, zieht zunächst aus Opportunismus weiter mit. Später im im Krieg werden sie zu hochdekorierten SS-Leuten und Spionen, nach dem Krieg wechseln sie einfach die Uniform, arbeiten Mal für den BND, die CIA, den Mossad und auch den KGB. Doch bereits während des Kriegs entzweien sich die Brüder Hub und Koja Solm und werden zu erbitterten Feinden.

Während die Brüder zunehmend vom Bösen umfangen werden, spielt die Adoptivschwester Ev den menschlichen Part. Ev ist ein jüdisches Waisenkind, das in den Wirren von 1917 zur Familie Solm stößt. Im Erwachsenenalter oszilliert Ev in ihren Liebesbeziehungen zwischen beiden Brüdern. Die Entzweiiung zwischen Hub und Koja ist also vorprogrammiert. Ev hält die völkische Bewegung am Anfang für Jungsspiele. Später empört sie sich als Ärztin über die Gräuel der SS, lässt sich sogar nach Auschwitz versetzen in dem naiven Glauben, dort Menschen retten zu können. Beide Brüder machen Ev über lange Zeit weis, nichts mit den Gräueln der SS zu tun zu haben. Ev bleibt in all diesen Scheußlichkeiten eine echte Philantropin. Nach dem Krieg geht sie nach Israel und spürt für den Mossad NS-Größen auf. Zumindest versucht sie es. Denn sie weiß nichts davon, dass Koja allen Gesuchten einen Wink gibt.

Der Zeitrahmen der Handlung geht von 1905, als der deutsch-baltische Großvater von Bolschewiki ertränkt wird, bis 1974, als Koja im Krankenhaus in München liegt und einem Hippie seine Lebensgeschichte beichtet. Diese „Beichte“ wird zur Rahmenhandlung. Der Roman wird aus der Perspektive des Ich-Erzählers Koja Solm geschildert.

In dem Roman überschlagen sich die Ereignisse, die persönlichen wie auch historischen. Chris Kraus gibt ein atemloses Tempo vor, was die Lektüre kurzweilig macht. Der Autor hat die historischen Ereignisse sehr gut recherchiert. Man merkt Chris Kraus an, dass er Drehbücher schreibt. Eine leider besonders grausame Szene in „Das Kalte Blut“ bleibt in Erinnerung, und es gibt kaum eine Rezension, die diese Szene nicht erwähnt. Eine Massenexekution von Juden im Baltikum. Eine Frau liegt mit ihrem Baby schon in der Grube, als sich plötzlich beide wieder rühren. Koja Solm wird aufgefordert zu schießen. Er steht wie angewurzelt am Rand der Grube, bis er wie im Rausch das ganze Magazin entleert. Es ist fast wie in einem Film, diese Szene macht den Drehbuchautor Chris Kraus deutlich, der durch die Filme „4 Minuten“ und „Poll“ bekannt geworden ist.

Thema des Romans ist für mich die „Banalität des Bösen“. Koja ist ein intelligenter, charmanter und charakterschwacher Mensch. Als Maler öffnet ihm seine künstlerische Begabung immer wieder alle Türen. Koja erzählt die nationalsozialistische Schreckensherrschaft als eine Geschichte von kleinkarierter, spießiger Mittelmäßigkeit. Herausragend ist die Ironie in dem Roman. Aber gerade dieser Humor zeigt die Dummheit der Täter so schonungslos. „Jetzt beruhig dich erst mal, Koja, bat Hub auf die gleiche Art, die er schon angesichts einer Fuhre aufgestapelter Babyleichen am Posener Güterbahnhof für richtig gehalten hatte. “ Der Völkermord, den die beiden Brüder begehen, wird Teil ihres alltäglichen Lebens. Dieses Osziliieren zwischen dem Erzählten und der Tonalität des Erzählenden ist eine große Stärke des Romans. 

Die Schwäche des Romans aber besteht nach meiner Interpretation darin, dass Chris Kraus kein Ende findet. Auch nach dem Krieg überschlagen sich weiter die Ereignisse. Koja arbeitet für verschiedene Geheimdienste, wechselt die Identität wie ein Kleidungsstück. In dem Roman ist er sogar für den Skandal um Otto John verantwortlich.  Als Koja mit Ev nach Israel auswandert, verändert der Roman die Tonlage. Die Ironie, die für mich die Qualität des Buches ausgemacht hat, verschwindet. Hub erschießt Anna, Evs Kind, als er erfährt, dass nicht er Annas leiblicher Vater ist, sondern sein Bruder Koja. Und aus dem charakterschwachen, aber im Grunde harmlosen Opportunisten Koja wird ein eiskalter Killer. Die Wandlung ist für mich nicht glaubwürdig. Immer mehr Personen treten auf. Die Geschehnisse wirken etwas zusammenhanglos und zum Teil übertrieben.

Und dennoch sind es beispielsweise Passagen wie diese, weshalb mir das Buch gefallen hat:
„Als Kind war ich davon überzeugt, dass jeder eine Suche als Lebensvorwand benötigt. Ich meine gar nicht mal Schliemann und diesen ganzen Trojaquatsch. Also nichts Tatendurstiges. Keinen Gral. Sondern ich hatte das Gefühl, dass jeder wie Hänsel und Gretel im dunklen Wald ausgesetzt wird und schauen muss, wie er sich nach Hause durchschlägt. Doch als ich älter war, wurde mich bewusst, dass eigentlich niemand aus dem Wald je herauskommt. Alle taumeln nur umeinander, bleiben im Unterholz stecke, und anstatt zu suchen, wollen sie nur nicht gefunden werden.“

http://www.diogenes.ch/leser/titel/chris-kraus/das-kalte-blut-9783257069730.html

https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article163064796/Schoene-Juden-impotente-Deutsche.html

http://www.zeit.de/2017/12/das-kalte-blut-chris-kraus-roman-rezension

http://www.deutschlandfunk.de/chris-kraus-das-kalte-blut-das-absolut-boese-als-treibstoff.700.de.html?dram:article_id=385863