Die Pogromnacht jährt sich zum 80. Mal in diesem Jahr, und wer dieses Datums literarisch gedenken will, der sollte den Roman „Der Reisende“ lesen. Der – und alle anderen Menschen, deren Nerven stark genug sind für dieses herausragende Buch. Spannend bis zur letzten Seite und geschickt komponiert. Die deutsche Exilliteratur ist um einen Roman reicher.Der Roman steht zwar in seiner Qualität für sich. Aber er gewinnt zusätzlich an Bedeutung, wenn man seine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte betrachtet. „Der Reisende“ spielt in den Tagen nach der Reichspogromnacht und ist auch zu dieser Zeit entstanden. Alexander Ulrich Boschwitz ist der Autor, ein deutscher Jude, der nach der Machtergreifung zunächst in Skandinavien lebte, dann in England. Boschwitz war gerade Mal Anfang 20, als er im Exil zwei Romane schrieb. Der erste wurde 1937 in Schweden veröffentlicht, der zweite 1939 in England, beide erschienen als Übersetzung in die jeweilige Landessprache. Nun, nach 80 Jahren, verlegt Klett-Cotta den zweiten Roman „The man who took trains“ erstmals in der Originalsprache Deutsch. Heinrich Böll soll sich Anfang der 1960er Jahre schon für den Roman stark gemacht und seinem Verlag Middelhauve die Veröffentlichung angeraten haben. Vergeblich.
Das Kriegsende hat Ulrich Alexander Boschwitz leider nicht mehr erlebt. Nach Kriegsausbruch ließ ihn die britische Regierung internieren und nach Australien bringen. 1942 war Boschwitz auf der Rückreise nach England, als sein Schiff von einem deutschen U-Boot torpediert wurde und sank. Boschwitz und alle anderen 361 Passagiere starben. Heute, im Jahre 2018, hat Peter Graf auf Basis des Skripts, das sich im Exilarchiv der Nationalbibliothek in Frankfurt befindet, den Roman erstmals auf Deutsch herausgegeben.
Der Autor war also zur Zeit der Reichsprogromnacht im vorerst sicheren Exil. Aber er schreibt, als wäre er mittendrin gewesen. In dem Roman flieht der Jude Otto Silbermann aus seiner Wohnung in Berlin, als in Folge der Reichsprogromnacht die Gestapo an seine Tür bollert. Silbermann greift gerade noch sein Portemonnaie und stürzt aus dem Hintereingang. Von nun an irrlichtert er durch Deutschland. Die Angst und Ziellosigkeit, die Silbermann umfangen, sind beklemmend. Wie ist es, wenn man keinen Ort mehr auf der Welt hat? Hotels sind für ihn gefährlich, denn er muss seinen Pass vorzeigen. Sein Schwager winkt ab, denn einen Juden übernachten zu lassen, bringe ihn womöglich in Teufelsküche. Ein Grenzübertritt nach Belgien scheitert. In seiner Not fährt der Jude Silbermann Zug. Immer nur Zug. Von einem Ort zum anderen. Der Weg ist das Ziel. Obwohl Boschwitz nicht wissen konnte, dass man die Juden töten wird, nimmt der Roman den späteren Mord an den Juden vorweg. Es ist von Anfang an klar, dass die Handlung nur mit dem Untergang Silbermanns und seiner Leidensgenossen enden kann.
Bemerkenswert ist die Komposition. Der Autor bleibt die ganze Zeit an der Hauptfigur, andere Figuren kommen hinzu, reisen eine Zeitlang mit und verschwinden beim nächsten Halt wieder. Der Kaufmann Otto Silbermann ist keinesfalls sympathisch. Silbermann, der aussieht wie ein „Goi“, grenzt sich von anderen Juden ab, die ihm zu „jüdisch“ aussehen. Am selben Tag, als ihm sein arischer Schwager die Übernachtung in seinem Haus verwehrt, schickt er einen Bekannten fort, weil er ihm zu „jüdisch“ sei. Silbermann will nicht auffallen in dessen Gesellschaft.
Erst verliert Otto Silbermann sein Geld, dann seine Würde, weiterhin seinen Verstand und am Ende vermutlich sein Leben. Das lässt der Roman offen. Die zunehmende Verwirrung Silbermanns spiegelt die Ungeheuerlichkeit der Entrechtung der Juden wider. Immer wieder versucht er sich selbst zu beruhigen: So schlimm wird es schon nicht werden, wir sind doch in Deutschland, wir sind im 20. Jahrhundert, das ist bestimmt ein Missverständnis, ich bin rechtschaffener Bürger, gewissenhafter Steuerzahler, Teilnehmer des Ersten Weltkriegs. Das sind einige der Mantren, mit denen Silbermanns sich das Unvorstellbare begreiflich machen will. Ist das noch die Wirklichkeit oder schon der beginnende Wahnsinn? Im Jahr 1938 ist es leider beides.
Die Handlung läuft kontinuierlich auf den Höhepunkt zu: die freiwillige Festnahme bei der Polizei. Ein letztes Mal beruft sich Silbermann auf seine Bürgerrechte als Steuerzahler. Das Ende bleibt offen. Der Roman zeigt eine erstaunliche literarische Reife. Boschwitz hat ihn mit 23 Jahren geschrieben. Was hätte dieser Autor noch schaffen können, wenn ihm nicht das Pech widerfahren wäre, als Jude in Deutschland geboren worden zu sein?
https://www.klett-cotta.de/buch/Moderne_Klassiker/Der_Reisende/90608
http://www.deutschlandfunk.de/ulrich-alexander-boschwitz-der-reisende-die-lange.700.de.html?dram:article_id=410688
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/roman-der-reisende-von-ulrich-alexander-boschwitz-15440834.html