Nicht das Sterben der Artenvielfalt ist das Thema der „Winterbienen“, sondern das Streben nach Würde in einer Zeit, die dem Menschen jede Würde nimmt. Ich habe schon mehrere Bücher von Norbert Scheuer gelesen und auch hier in meinem Blog eines besprochen, die „Sprache der Vögel“. Aber kein anderes hat mir so gut gefallen wie die „Winterbienen“. Der Roman ist in Tagebuchform geschrieben, er beginnt Anfang 1944. Das Kriegsgeschehen und der Krankheitsverlauf des Protagonisten, der an Epilepsie leidet, verdichten sich immer mehr. Egdius Arimond spürt den Krieg außen und innen. Schauplatz ist die Eifel. Es ist kaum bekannt, dass die Eifel einer der letzten großen Kriegsschauplätze war. Mit der Ardennenoffensive Ende 1944 versuchten die deutschen Streitkräfte den Hafen von Antwerpen zurückzuerobern, über den die Alliierten ihren Nachschub bezogen. Ich bin viel in der Eifel unterwegs gewesen, weil mir die Landschaft so gut gefällt. Aber ich habe nirgendwo eine Erinnerung daran gefunden, welche Tragödie der Krieg über diese Gegend gebracht hat.
Auch in den „Winterbienen“ geht es bei Norbert Scheuer um Kall in der Eifel, dem Flüsschen Urft und dem Urftland, mittlerweile eine regelrecht literarische Landschaft. Und es geht wie immer bei Scheuer auch um die Familie Arimond. Egidius, ehemaliger Gymnasiallehrer, ist zurückgekehrt in sein Elternhaus, wo er nun alleine lebt und die Bienenzucht des Vaters übernommen hat. Als Epileptiker ist er ein Verfolgter des Nationalsozialismus, zwangssterilisiert, mit Berufsverbot. Er lebt vom Verkauf des Honigs. Rezepte für Medikamente darf ihm der Arzt nicht ausstellen, also besorgt er sie sich unter der Hand. Der Apotheker lässt Egidius spüren lässt, wie sehr er Kranke als angebliche Schädlinge der Gesellschaft verachtet. Aber woher bekommt Egidius das Geld für die teuren Medikamente? Hier beginnt der interessanteste Teil des Romans, aber dazu später.
Die Bienen werden für Egidius zu einer Weltflucht. Über den Zustand des Bienenstocks erhalten wir Zugang zum Seelenleben des Protagonisten. Mit ungeheurem Detailreichtum beschreibt Scheuer das Leben der Bienen und die Arbeit des Imkers. Der Zyklus des Bienenstocks verläuft parallel zur den Zerstörungen des Krieges. Egidius Arimond hat mehrere Bienenvölker, seine Winterbienen sind unweit der der belgischen Grenze. Zudem ist Egidius ein hervorragender Kenner der unterirdischen Gänge der stillgelegten Bleibergwerke der Eifel. Er ist also prädestiniert dafür, Menschen zur Flucht über die Grenze zu verhelfen. Egidius gerät in einen Schleuserring, in der örtlichen Bibliothek schieben ihm Unbekannte Zettel in seine Bücher mit den nötigen Informationen. Um an das Geld für seine Medikamente zu kommen, versteckt Egidius Menschen in unterirdischen Höhlensystemen und bringt sie in präparierten Bienenkörben zur Grenze.
Die Klarheit, mit der Norbert Scheuer diese elenden Flüchtlingsschicksale beschreibt, ist ähnlich beeindruckend wie die Beschreibung des Bombenkriegs, der über die Eifel heraufzieht. Als Leser/-in sehnt man mit größter Anspannung dem rettenden Einmarsch der Allierten entgegen. Für zarte Leserseelen bietet der Roman einige Härten. Norbert Scheuer verzichtet auf opulente Beschreibungen, auch über das Äußere seiner Figuren erfahren wir wenig. Ich mag diesen lakonischen Stil, hinter wenigen Andeutungen verbergen sich Abgründe. Zudem ist die Handlung ungeheuer spannend. Immer wieder stellt sich zum Beispiel die Frage, wer Egidius die Zettel ins Buch schiebt.
Der Roman ist eine Art Doppelroman. Parallel wird die Geschichte eines der Vorfahren von Egidius erzählt, der im 15. Jahrhundert als Mönch die Bienen in die Gegend brachte, das Kloster aber verlassen musste, weil er sich in ein Bauernmädchen verliebte. Egidius recherchiert seine Geschichte in der Bibliothek, über die er in Kontakt zum Schleuserring gerät.
Das Ende bricht mit der Tagebuchform. Der Held nimmt ein tragisches Ende trotz der Befreiung durch die Amerikaner. Erzählt wird auch dieses Ende sehr wortkarg, allerdings von einem auktorialen Erzähler.