Nächste Woche beginnt die Buchmesse, und ich spreche mit Gusel Jachina über ihren neuen Roman „Wolgakinder“. Das ist ganz großartig, denn es war ein Vergnügen für mich, diesen Roman zu lesen.
Der Name begegnete mir zum ersten Mal, als ich den Termin mit der Autorin auf der Buchmesse bekam. Messe-Sonntag, 10 Uhr, Gusel Jachina, „Wolgakinder“. Wer ist Gusel Jachina? Los geht’s, ich hole mir gleich den ersten Roman „Suleika öffnet die Augen“, der bereits als Paperback auf deutsch erschienen ist.
Gusel Jachina kommt aus Kazan an der Wolga, der Hauptstadt Tatarstans, einer autonomen Republik in Russland. Sie lebt in Moskau und schreibt ihre Romane auf Russisch. Jachina schloss unter anderen ein Studium an der Filmschule in Moskau ab. Das muss man eigentlich kaum nachlesen, denn in beiden Romanen sind die filmischen Elemente bemerkenswert. „Suleika öffnet die Augen“ hatte sie zunächst sogar als Drehbuch konzipiert.
Was in Jachinas beiden Roman also sofort auffällt, ist der hohe Detailreichtum und der fast schon kinematographische Stil. Beides gibt der Handlung eine ungeheure Spannung.
Die ganz alltägliche Lebensweise der Menschen wird regelrecht naturalistisch dargestellt, wirkt aber an keiner Stelle ermüdend oder langatmig: Der Alltag in den Traditionen eines tatarischen Dorfes, das erbärmliche Leben in einem sibirischen Lager, die Ernährung von den Dingen der Natur, die monatelange Fahrt im Viehwaggon, eine regelrechte Irrfahrt durch die riesige Sowjetunion.
Suleika ist Analphabetin und wird bereits mit 15 Jahren an einen alten reichen Bauern verheiratet. Vorbild der Figur ist die eigene tatarische Großmutter Jachinas. Ende der 20er Jahre wird Suleikas Mann als Kulake erschossen, sie selbst ins Lager nach Sibirien verschleppt.
Großartig ist die Tonalität, die das unfassbare Elend beschreibt. Suleika wird von ihrem Mann und der Schwiegermutter behandelt wie Vieh. Erst in der Gefangenschaft erlebt sie Freiheit. Denn Suleika begreift schnell, wie sie am besten in der Wildnis überleben kann, sie wird zu einer erfahrenen Jägerin und gewinnt Selbstvertrauen. So eine Geschichte könnte zu Kitsch werden, aber Gusel Jachina gelingt es, eine anrührende Lebensgeschichte zu gestalten.
Nicht erst im Lager, schon auf der endlosen Fahrt im Viehwaggon von Kazan ins sibirische Kranojarsk sterben die Menschen wie die Fliegen. Und dennoch erzählt Jachina die Geschehnisse mit einer gewissen für die russische Literatur nicht untypischen Ironie und wird dabei aber keinesfalls respektlos. Im Gegenteil, dieser Stil macht es überhaupt möglich, die Geschichte an sich heran kommen zu lassen.
Es gibt Täter und Opfer, aber die Autorin verzichtet auf Stereotype. Gut und Böse ist in dieser irren Stalin-Zeit nicht immer klar einzuteilen. Iwan Ignatow ist der Kommandant des Zuges, er erschießt Sulejkas Mann und bewacht die Irrfahrt der Verbannten bis in die Wildnis. Als Rotarmist will er nicht mehr als Anerkennung, denn auch Ignatow ist in bitterarmen Verhältnissen aufgewachsen. Aber auf der endlosen Zugfahrt erkennt er, dass er selber zu den Verbannten gehört.
Auch in dem neuen Roman geht es um die Anfänge der Sowjetunion, der Roman „Wolgakinder“ beginnt allerdings schon in der Zeit der Russischen Revolution. Gusel Jachina widmet sich der Geschichte der Wolgadeutschen. Auch dieser Roman ist historisch hervorragend recherchiert und von cineastischem Charakter. Wieder spielt die Natur eine große Rolle, das Schicksal der Menschen wird eins mit der Wolga und der Steppenlandschaft. Jakob Bach ist Dorfschullehrer, die Verbrechen marodierender Rotarmisten verschlagen ihm die Sprache, stumm erlebt er in einem Aussiedlerhof den Aufbau der Sowjetunion. Das einsame Leben am anderen Ufer der Wolga rettet ihm und seiner kleinen Tochter das Leben. Die Tonalität ist märchenhafter als „Suleika“, am Ende im Epilog bricht Jachina mit diesem Stil und schreibt berichtartig, fast schon stenographisch das Ende der Hauptfiguren.
Ich freue mich sehr auf das Gespräch mit Gusel Jachina heute in einer Woche. Denn insbesondere „Wolgakinder“ gibt auch aus historischer Perspektive sehr reichen Gesprächsstoff her!