Und was, wenn wir uns geirrt haben? Am Ende seiner Amtszeit soll Barack Obama seine engsten Vertrauten mit dieser Frage konfrontiert haben. Und was, wenn der Liberalismus doch keine Überlebensdauer hat? Ivan Krastev und Stephen Holmes im Interview auf der Frankfurter Buchmesse.

Ivan Krastev (links) sprach Englisch mit Simultandolmetscher, Stephen Holmes (Mitte) hat in Heidelberg studiert und spricht bis heute sehr gut Deutsch.

„Das Licht, das erlosch“ heißt das neue Werk von Krastev, nach „Europadämmerung“ der zweite Titel über den westlichen Liberalismus. Koautor ist der amerikanische Jurist Stephen Holmes. War die Ära des Liberalismus in Wirklichkeit nur eine kurze Ära nach dem Fall der Mauer? Und was folgt? Es liegt an uns, zu feiern oder zu trauern, schreiben die Autoren als Quintessenz. Was sie zusammentragen, klingt aber eher nach trauern. Sie glauben, dass es eine multipolare Welt geben wird, in der Chinas autoritärer politischer Stil an Einfluss gewinnen, aber die Welt nicht beherrschen wird.

Als die Berliner Mauer fiel, gab es 16 Grenzzäune weltweit. Heute sind mehr als 60 befestigte Grenzen fertiggestellt oder im Bau. Weltweiter Aufschrei? Kaum zu hören.

Aber wie kommt es dazu? Nach dem Niedergang des Kommunismus hat der Liberalismus seine Strahlkraft verloren. Menschenrechte waren im Kalten Krieg ein strategischer Vorteil, heute aber stehe der Rechtsstaat der Terrorismusbekämpfung im Weg, meinen Krastev und Holmes.

Auch in dem neuen Buch geht es Krastev um die Abkehr vom Liberalismus vor allem in Mittelosteuropa. 2017 hatte der bulgarische Politologe einen großen Erfolg mit seinem essayistischen Buch „After Europe“, zu deutsch „Europadämmerung“. Seine stärkste These: Viele Länder in Mittelosteuropa seien in der Situation wie die DDR vor dem Mauerbau. Die Dämonisierung des Westens sei notwendig, wenn jeder fünfte oder (im Baltikum sogar jeder vierte) das Land verlassen würde.

In dem neuen Buch „Das Licht, das erlosch“ schreiben nun beide Autoren, viele Menschen in Mittelosteuropa sähen jene Erweiterung, die Brüssel gern als einen Akt freigebiger Großzügigkeit gegenüber zuvor unterdrückten Nationen in ein schmeichelhaftes Licht rücke, als weiche Kolonisierung. Kolonisierung? Eine steile These vor dem Hintergrund, dass der Beitritt erstens freiwillig geschah. Und zweitens gehören die Staaten aus Mittelosteuropa zu den größten Nettoempfängern von Subventionen in der EU. Kolonisierung = Ausbeutung passt hier wohl nicht so ganz. Was Autoren damit meinen: Für viele Menschen in Polen, Ungarn oder Bulgarien ist Liberalismus ein Synonym für Selbstbereicherung. In der Tat tut sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus eine ungeheure Kluft auf zwischen Arm und Reich.

Aber woher kommt die Islamfeindlichkeit in Mittelosteuropa? Es leben dort schließlich kaum Muslime. Aber viele Emigranten aus Romänien oder Litauen leben im Ausland mit Muslimen in den gleichen Stadtteilen und konkurrieren um die gleichen Jobs, schreiben Krastev und Holmes. In London beispielsweise haben Emigranten aus Pakistan und Emigranten aus Polen viele Berührungspunkte. Ihre Erfahrungen verbreiten sich über die sozialen Medien.

Weltoffenheit macht Angst, sagen die Autoren, der Bulgare Ivan Krastev und der US-Amerikaner Stephen Holmes

Und was ist mit Russland? Wie Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg sei Putins Russland zu einer zornigen, revisionistischen Macht geworden, die offenbar alles daran setze, die europäische Ordnung zu zerstören. Genauso, wie man in der Sowjetunion den Kommunismus nur gespielt habe, hätten die Russen einige Jahre Demokratie gespielt. 2007 mit Putins Rede vor der Münchener Sicherheitskonferenz sei Schluss mit dem Spiel gewesen. Seitdem machen die Russen klar, dass sie ihren eigenen Weg gehen.

In der überreich vernetzten, aber massiv ungleichen Welt ohne Mauern habe transnationale Migration die Revolutionen des 20 Jahrhunderts ersetzt. Der Aufstand der Massen, wie wir ihn aus dem letzten Jahrhundert kennen, sei daher ein Auslaufmodell.

Im Interview auf dem „Blauen Sofa“ machen die beiden Autoren klar, dass sie nicht vom Ende des Liberalismus ausgehen, sondern vom Ende des Liberalismus als herrschender Ideologie. Das Buch ist wirklich sehr lesenswert. Es hat mir nochmals vor Augen geführt, wie stark ideologisiert unsere Sicht auf das Weltgeschehen ist – ohne diese Ideologie in den Schmutz zu ziehen. Allein für die Erkenntnis, mit welchen sprachlichen Orthodoxien wir arbeiten, hat für mich die Lektüre des Buches gelohnt. Die Sachlichkeit der Analyse ist hervorragend. Es geht also doch, Mal offen über alles zu reden und Tabus zu brechen, ohne AfD-Fan zu sein.

 

https://www.zdf.de/kultur/das-blaue-sofa/krastev-holmes-blaues-sofa-17-10-2019-100.html

https://www.3sat.de/kultur/buchmesse/standgespraech-ivan-krastev-stephen-holmes-14-10-2019-100.html

https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/das-erloschene-licht-9783550050695.html