Allein für die Gurlitt-Ausstellung in der Bundeskunsthalle lohnt sich eine Reise nach Bonn. Denn der Skandal um den Nazi-Kunstraub ist in seiner ganzen Tiefe erst richtig zu verstehen, wenn man die Exponate dazu sieht. Künstlerisch und politisch ist der Fall Gurlitt so vielschichtig, dass die Ausstellung mit ganz unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Eindrücken auf den Besucher einwirkt. Zu Beginn habe ich die Person Cornelius Gurlitt als zwielichtig und unsympathisch wahrgenommen. Im Laufe der Ausstellung habe ich mich aber gefragt, ob nicht er das große Opfer dieses Kunstskandals war. Wie ist es wohl, wenn man schon als Jugendlicher weiß, dass man später eine Erbe antreten wird, dass aus lauter verborgenen Kunstwerken besteht, aus „Leichen im Keller“? Cornelius Gurlitt war Einzelgänger, wen wundert das? Eine Ausbildung hat er nie zu Ende gebracht, gelebt hat er von gelegentlichen Verkäufen aus seinem zweifelhaften Kunsterbe. In einem Briefwechsel stellt die Schwester Benita die Frage, ob das Erbe nicht auch eine Belastung für den Bruder sei. Eine fast schon rhetorische Frage, wenn man die durch Ausstellung geht. Das Leben des Cornelius Gurlitt könnte gut einen Roman füllen. Dann wieder habe ich mich gefragt, ob der Vater wirklich zu verurteilen ist. Hildebrand Gurlitt hat für seine Zeit einen sehr mutigen und progressiven Kunstgeschmack vertreten. Für sein entschiedenes Engagement für die Kunst nahm er zeitweilig sogar berufliche Nachteile in Kauf. Das hat ihn aber, wie es in der Ausstellung heißt, nicht davon abgehalten, Profit aus der Enteignung jüdischer Mitbürger zu ziehen. Aber was wäre in dieser Situation damals die Alternative gewesen? Die Werke zu Brennholz zu machen? Sie an Menschen zu verscherbeln, die sie nicht wertschätzen? An diesem Punkt habe ich mich noch schwer getan, Hildebrand Gurlitt als gewissenlosen Kunsträuber zu sehen. Am Ende der Ausstellung allerdings fiel mir keine treffendere Definition ein. Denn Hildebrand Gurlitt professionalisierte sich immer weiter, vielleicht könnte man sagen, er hatte Blut geleckt. Er fing an, das große Rad auf dem Kunstmarkt zu drehen, avancierte schließlich zu Hitlers Chefeinkäufer. Das hatte mit Begeisterung für die Kunst nur noch wenig zu tun. Nach dem Krieg konnte Hildebrand Gurlitt nicht nur die Werke für sich behalten. Er entzog sich dem Entnazifizierungsverfahren und präsentierte eine weiße Weste. Eine Antwort auf die Frage, wie es Familie Gurlitt schaffen konnte, die ganze Sammlung mit weit mehr als 1000 Kunstschätzen aus dem brennenden Dresden zu retten, bleibt die Ausstellung allerdings schuldig. Es ist einerseits dieser Kunstkrimi, der einen in den Bann zieht. Zum anderen ist es aber auch die Schönheit der Exponate. Geschmack hatte sie, diese Familie Gurlitt. Besonders beeindruckt haben mich die Kunstwerke von Max Beckmann. Insgesamt erst vier Werke aus der Gurlitt-Sammlung konnten bislang an die Nachfahren der rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben werden. Ansonsten ist es bis heute unklar, was tatsächlich rechtmäßig und was unrechtmäßig in den Besitz der Familie Gurlitt gelangt ist. Zumindest juristisch gesehen. Auf die moralische Frage gibt die Ausstellung am Ende eine – für mich persönlich – klare Antwort. Aber die Bundeskunsthalle lässt dennoch die Rolle der Justiz und der Öffentlichkeit in diesem Skandal nicht außer acht. Wurde Cornelius Gurlitt nicht vielleicht auch Opfer juristischer und medialer Vorverurteilung? Als seinen Erben übrigens hatte Gurlitt, der im Mai 2014 verstarb, das Kunstmuseum Bern bestimmt.
http://www.bundeskunsthalle.de/ausstellungen/bestandsaufnahme-gurlitt.html